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Um sich persönlich weiterzuentwickeln, ist es immer von Vorteil, über den Tellerrand zu schauen.
Sich mit den Kulturen anderer Länder zu beschäftigen, erweitert den Horizont und schafft Toleranz. Korea gehört nicht zu den Hauptreisezielen des durchschnittlichen Europäers und birgt einen wahren Schatz an Besonderheiten.
Eine davon ist Nunchi, wörtlich übersetzt: Augenmaß
In der koreanischen Kultur gilt sie als eine Art soziale Superkraft. Nunchi beschreibt die Fähigkeit, Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu erspüren, um Vertrauen, Harmonie und Verbindung herzustellen. Und auch wir Westeuropäer können sicherlich in unseren beruflichen und privaten Beziehungen davon profitieren.
Doch was genau verbirgt sich hinter dieser Superkraft? Es geht darum, mit Achtsamkeit und emotionaler Intelligenz die Gedanken der Mitmenschen zu erspüren, mit sozialem Feingefühl die Körpersprache und Schwingungen anderer zu lesen und Gefühle und Gedanken zu deuten. Ferner hilft es einem dabei, die Atmosphäre in einem Raum zu erfassen, zu begreifen, wie man schwierigen Charakteren die Angriffsfläche nimmt und warum man viel öfter die Gelegenheit nutzen sollte, den Mund zu halten.
Nunchi hat in Korea eine lange Tradition und ist eng mit der Geschichte des Landes verwoben. Geografisch liegt die Halbinsel zwischen den Großmächten China und Japan und war sage und schreibe 800 mal besetzt. Doch Südkorea hat sich trotz all der Unruhen zu einer Kultur- und Industrienation entwickelt. Und das nicht zuletzt wegen Nunchi. Die Bevölkerung hatte eine besondere Überlebensstrategie entwickelt und konnte in all den Jahren der Besetzung ihre Kultur und Bräuche beibehalten.
Schauen wir uns ein paar konkrete Beispiele an. Hierbei spielt der physische und psychosoziale Raum eine zentrale Rolle.
- Stell dir vor, du bist neu in einer Firma und hörst, wie alle im Raum über einen schlechten Witz einer älteren Dame lachen. Besitzt du ausreichend “Gespür für die Situation” wirst du schnell begreifen, dass die ältere Dame eine hohe Machtposition haben muss, auch wenn sie sich nicht persönlich vorgestellt hat. Mit Nunchi erfasst du das energetische Zusammenspiel aller Menschen im Raum und kannst es entsprechend deuten.
Fehlt es dagegen einem Menschen an dem entsprechenden Feingefühl für die aktuelle Situation, kann die Energie in einem Raum auch sehr schnell kippen. Stell dir vor, eine Freundin hat dir gerade mitgeteilt, dass sie eine Krebsdiagnose erhalten hat und im gleichen Moment tritt eine weitere Freundin in den Raum, spürt eure bedrückte Stimmung und fragt: “Was ist denn hier los? Ist jemand gestorben?” Schnell entstehen Gefühle wie Unbehagen und Scham.
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Doch bei Nunchi geht es nicht nur um die Etikette und das richtige Timing, sondern auch darum, mit Feingefühl die Stimmung im Raum zu verbessern. Kinder lernen bereits früh, dass sie Teil einer größeren Gemeinschaft und mit allen verbunden sind. Im Gegensatz zu dem viel häufigeren Ellenbogeneinsatz in westlichen Ländern ziehen die Koreaner die sanften “runden” Charaktere vor, um anderen weniger Angriffsfläche zu bieten.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist es, sich in “Einsicht” zu üben. Dabei öffnest du deinen Blick für die Gefühle eines anderen Menschen, wahrst dabei aber den nötigen Abstand, um die Situation objektiv zu beurteilen und hilfreiche Ratschläge zu geben. In unserer Kultur wird dagegen des Öfteren davon gesprochen, dass man sich in die Lage des anderen versetzen soll. Damit wäre man zwar möglicherweise in der Lage, das Leid des anderen zu spüren, hätte aber nicht mehr den nötigen Abstand und somit die fehlende Weitsicht.
Zuletzt noch ein entscheidender Ratschlag was das Thema “Ruhe bewahren” anbetrifft. Die Ruhe bewahren, auch wenn alles um dich herum hektisch ist, hilft dir, besser auf die Gesten und Worte der Menschen zu achten. “Stillsein” ist ein wichtiger Aspekt beim Nunchi. Betrete einen Raum stets ohne Erwartungen und Vorurteile. Ein ruhiger und freier Geist kann viel leichter unvoreingenommen eine Situation betrachten. Stillsein beruht auf ruhiger Überlegung, auf bewusster Entschleunigung und meditativer Kontemplation.
Im Gegensatz zu unserer westlichen Vorstellung, der eigenen Stimme immer Gehör verschaffen zu wollen, zieht man in Korea im Zweifelsfall, das Schweigen dem Reden vor, gemäss dem Credo “Schweigen ist Gold” bzw. “Weniger ist mehr”.
Doch warum ist das so?
Weil sich die meisten Fragen von selbst beantworten, wenn wir einfach geduldig zuhören. Dein Stillsein erlaubt es dem Weltwissen, auf ganz natürlichem Wege zu dir zu finden. Das heißt natürlich nicht, dass man keine Fragen mehr stellen soll, aber nicht jede Frage ist sinnvoll, vieles erledigt sich mit etwas Geduld von ganz alleine.
Nunchi steigert dein Feingefühl für indirekte Kommunikation und hilft in sozialen Beziehungen. Du lernst, auf die Schwingung von Worten zu achten und entsprechend zu deuten, so als würdest du zwischen den Zeilen lesen können.
Zum Schluss noch ein paar praktische Beispiele, wie auch du Nunchi für dich nutzen kannst:
- Du bist auf eine Feier eingeladen, auf die du nicht wirklich Lust hast, weil du schon im Voraus weißt wer alles kommt, doch anstatt schon schlecht gelaunt dorthin zu kommen, befreie dich von allen Vorurteilen und lasse dich überraschen, sei neugierig und offen was kommt und bewahre die Ruhe, oftmals ergeben sich völlig neue Bekanntschaften und interessante Gespräche.
- Dich machen Meetings in deiner Firma nervös und du hast das Gefühl es geht immer nur darum wer der Beste ist? Bring das nächste Mal etwas Essbares mit, das sich zwischen allen Anwesenden teilen lässt, zum Beispiel eine Schale mit frischen Apfelstücken. Gib deinen Kollegen mit einer Begrüßung, wie “Hallo alle zusammen” das Gefühl, das sich jeder integriert fühlt. Lass die Schale einfach rund gehen. Der Weg der Schale durch den Raum erzeugt automatisch ein Gefühl der Verbundenheit zwischen allen Teilnehmenden.
- Du möchtest ein Problem in der Familie ansprechen oder brauchst Hilfe? Dann suche dir einen passenden Moment aus, wo die Schwingungen günstig sind. Dein Partner/Familienangehöriger ist morgens vor dem ersten Kaffee oder der Dusche immer schlecht gelaunt, dann warte evtl. bis zum Abend, wenn er entspannt bei einem Glas Wein im Wohnzimmer sitzt.
(angelehnt an das Buch: Nunchi – das koreanische Geheimrezept von Euny Hong)